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8. Februar 2019

Die Logik der Verhandlungen zwischen
der Schweiz und der EU*

Die Verhandlungen des institutionellen Rahmenabkommens, zurzeit Gegenstand von Konsultationen in der Schweiz, waren mühselig und lang. Die EU setzte die Schweiz wiederholt unter Druck, beispielsweise indem sie die Verhandlungen anderer Abkommen aussetzte oder ihre Gleichwertigkeitsanerkennung der Schweizer Börsenregulierung nur befristet verlängerte. Eine solche Verknüpfung von sachlich nicht zusammenhängenden Themen ist eine Verhandlungsstrategie, die in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU häufig angewandt wird und die EU wie auch die Schweiz begünstigen kann.

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Dr. Sabine Jenni

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Liechtenstein-Institut

sabinejenni@gmail.com

Zusammenfassung

Die Geschichte von Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU ist lang. Die Verhandlungen sind oft kontrovers und aufwendig, geprägt von Drohungen, Zugeständnissen, der Verknüpfung von sachlich nicht zusammenhängenden Themen, jedoch auch vom erfolgreichen Ausgleich von teilweise widersprüchlichen Interessen. Die Verhandlungsergebnisse werden durch ungleiche und themenbezogene Verhandlungsmacht beeinflusst.

Viele Verhandlungen führten zu zahlreichen Abkommen von unterschiedlicher Reichweite und mit unterschiedlichem Fokus. Die Abkommen bieten beiden Parteien Vorteile, sind relativ stabil, haben sich aber bei Meinungsverschiedenheiten und Politikänderungen auch als fragile Regelungen erwiesen. Beide Vertragsparteien können jederzeit entscheiden, ob sie ein Abkommen in Reaktion auf eine unliebsame Entscheidung der anderen Partei aussetzen, nicht anwenden oder nicht aktualisieren möchten. Paradoxerweise würde ein institutionelles Rahmenabkommen, das unter anderem wegen der Einführung eines Schiedsgerichts und der Rolle des Europäischen Gerichtshofes kritisiert wird, die Notwendigkeit von solch unfreundlichen Verhandlungstaktiken verringern.*

Eine Geschichte langer Verhandlungen

Die Geschichte der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zeigt, dass der Abschluss vieler sektorieller Abkommen lange Verhandlungen erforderte. Die Verhandlungen des Versicherungsabkommens, das bis heute den sektoriellen Marktzugang für Versicherungsunternehmen (mit Ausnahme von Lebensversicherungen) regelt, dauerten sechzehn Jahre (1973–1989). Das Abkommen wurde erstmals 1982 paraphiert, musste aber nach einer Änderung der EG-Rechtsvorschriften angepasst werden. Die offiziellen Verhandlungen der Bilateralen I dauerten sechs Jahre (1993–1999). Vor allem der Landverkehr und der freie Personenverkehr waren verhandlungsintensiv, da sich die Schweizer Politik in beiden Bereichen erheblich von der EU-Politik unterschied. Die Schweiz hat die EU-Vorschriften schliesslich mehrheitlich akzeptiert, allerdings in einzelnen Punkten auch ein Entgegenkommen der EU erzielt (z.B. Übergangsfristen bei der Einführung des freien Personenverkehrs oder das Nachtfahrverbot für Lastwagen).

Die Verhandlungen der Bilateralen II dauerten vier Jahre (2001–2004). Am schwierigsten war das Thema der Zinsbesteuerung, da die schweizerischen Regelungen im Finanzsektor von der damals neuen EU-Richtlinie zur Besteuerung von Zinserträgen abwichen und die Schweiz schliesslich die EU-Regelung übernahm.1) Auch für jüngere Verhandlungen scheint eine Dauer von zwei Jahren das Minimum zu sein (z.B. Vereinbarung zur Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur EVA 2009–2013; für die Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden 2011–2013. Die Verhandlungen des institutionellen Rahmenabkommens, dessen Entwurf zurzeit in der Schweiz diskutiert wird, dauerten vier Jahre von 2014 bis 2018. Nicht abgeschlossene Verhandlungen betreffen unter anderem die Beteiligung der Schweiz am Strommarkt der EU (Verhandlungen seit 2007).

Streitpunkt EU-Rechtsvorschriften

Oft dauern die Verhandlungen so lange, weil sich die Schweiz und die EU über die Nähe eines Abkommens zur EU-Gesetzgebung nicht einig sind. Wenn die Schweiz zudem eine andere Regulierungstradition besitzt, erfordert dies manchmal in der Schweiz einen politischen Richtungswechsel. Dies war bspw. für die Abkommen über die Zivilluftfahrt, den Landverkehr und den freien Personenverkehr (Bilaterale I), die Besteuerung von Zinserträgen (jetzt automatischer Informationsaustausch), die Grenzkontrolle (Schengen), das Asylrecht (Dublin, alle Bilateralen II) und die Zollsicherheit der Fall. In all diesen Abkommen spielt EU-Recht eine wichtige Rolle.

Bereits 1988 erwartete der Bundesrat, dass eine möglichst gute Vereinbarkeit der schweizerischen Gesetzgebung mit dem EU-Recht eine Voraussetzung für erfolgreiche Verhandlungen mit der EU über jede Form der weiteren Integration sei, egal ob es sich um sektorielle Abkommen oder einen Beitritt zum EWR oder zur EU handle (siehe Integrationsbericht 1988 und Bundesratsbotschaft 1993). Deshalb führte er die Politik des 'autonomen Nachvollzugs' ein. Seither wurden die für den Binnenmarkt relevanten schweizerischen Rechtsvorschriften weitgehend mit den entsprechenden EU-Vorschriften harmonisiert.

Oft wurden solche Harmonisierungen während Verhandlungen mit der EU vorgenommen. Beispielsweise passte die Schweiz während der Verhandlungen zu den Bilateralen I ihre Regelungen zu Fahrzeuggewicht und -länge Schritt für Schritt an EU-Standards an. Mit diesen Massnahmen stellten Regierung und Parlament ihr Engagement für eine Einigung im Landverkehr unter Beweis, nachdem im Jahr 1994, ein Jahr nach Beginn der Verhandlungen der Bilateralen I, die „Alpen-Initiative“ angenommen wurde. Die Volksinitiative forderte die Verlagerung des alpenquerenden Verkehrs von der Strasse auf die Schiene. Das Ziel der Initiative widersprach der Forderung der EU, die Verkehrskapazitäten auf den Transitstrecken nicht durch politische Massnahmen zu beschränken. Nach der Übernahme von EU-Standards durch die Schweiz wurden die unterbrochenen Verhandlungen wieder aufgenommen und die EU akzeptierte die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA) für schwere Nutzfahrzeuge als Massnahme zur Förderung der Verlagerung des Verkehrs von der Strasse auf die Schiene sowie das Nachtfahrverbot für Lastwagen.

EU-Rechtsvorschriften sind auch oft ein Grund für Abkommensrevisionen. In den letzten Jahren überarbeiteten die Schweiz und die EU zwei sektorielle Abkommen vollständig, um sie an neue Entwicklungen im EU-Recht anzupassen. Beispiele sind das Zollsicherheitsabkommen und das Zinsbesteuerungsabkommen. Im Rahmen einer Totalrevision des Zollsicherheitsabkommens übernahm die Schweiz die neuen EU-Zollsicherheitsvorschriften. Anderweitig hätte die Schweiz riskiert, als Drittstaat behandelt zu werden. Dies hätte die Wiedereinführung systematischer Zollkontrollen an der Schweiz-EU-Grenze bedeutet. Auch das Zinsbesteuerungsabkommen (ursprünglich als Teil der Bilateralen II abgeschlossen) wurde total revidiert, um die neue EU-Richtlinie über den automatischen Informationsaustausch zu übernehmen. In beiden Fällen war die Schweiz bereit, die Abkommen wegen entscheidender praktischer Vorteile (Zollsicherheit) oder aufgrund des internationalen Drucks (automatischer Informationsaustausch) rasch an neue EU-Rechtsvorschriften anzupassen.

Auch in laufenden Verhandlungen oder anstehenden Weiterentwicklungen von Abkommen sind die Unterschiede zwischen der Schweizer Politik und EU-Rechtsvorschriften Grund für Einigungsschwierigkeiten. Ein Beispiel ist die neue EU-Waffenrichtlinie, zu deren Übernahme die Schweiz verpflichtet ist, da die Richtlinie Teil des Schengen-Abkommens ist. Interessensgruppen in der Schweiz haben das Referendum ergriffen und die nötige Zahl an Unterschriften gesammelt, weshalb die Schweizer Stimmbevölkerung im Mai 2019 an der Urne über die Übernahme der neuen Waffenrichtlinie abstimmen wird.

Streitpunkt institutionelle Mechanismen

Ein weiterer häufiger Streitpunkt in Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU sind die Mechanismen zur rechtlichen Weiterentwicklung der Abkommen, zu deren Auslegung und zur Streitschlichtung. In den bestehenden Abkommen werden diese Fragen durch Gemischte Ausschüsse oder durch dynamische Verpflichtungen zur Übernahme künftiger EU-Rechtsvorschriften geregelt.

 

Ähnlich vielfältig wie die Nähe der Abkommen zur EU-Gesetzgebung sind auch die Kompetenzen der verschiedenen Gemischten Ausschüsse sowie die Rolle anderer institutioneller Mechanismen (siehe detaillierte EFTA-Studies-Analyse Funktionsweise der Abkommen zwischen der Schweiz und der EU: die versteckte Dynamik und ihre Gründe).

Der Entwurf für ein institutionelles Rahmenabkommen, zurzeit Gegenstand von Konsultationen in der Schweiz, würde diesen Ad-hoc-Regelungen für fünf existierende und alle zukünftigen Marktzugangsabkommen ein Ende setzen. Die Schweiz würde verpflichtet, neues EU-Recht zu übernehmen, wenn es von der EU als für die Marktzugangsabkommen relevant erklärt wird. Wie bisher würden Meinungsverschiedenheiten zur Interpretation und Durchsetzung der Abkommen in den Gemischten Ausschüssen diskutiert. Wenn in diesen allerdings keine Einigung zustande kommt, könnte neu ein Schiedsgericht eingesetzt werden. Dieses Schiedsgericht müsste zudem den Europäischen Gerichtshof konsultieren, wenn die Meinungsverschiedenheit EU-Recht betrifft.

Die Rolle von Verhandlungsmacht

Obwohl die EU dank ihrer schieren Grösse grundsätzlich mehr Verhandlungsmacht besitzt, kann die Verhandlungsmacht der Schweiz durch spezifische Interessenkonstellationen, Verhandlungsstrategien oder durch innenpolitische Faktoren gestärkt werden.

Gemäss der intergouvernementalistischen Theorie der europäischen Integration ist die Verhandlungsmacht ein entscheidender Faktor zur Erklärung von Verhandlungsergebnissen. Die Verhandlungsmacht wird beeinflusst durch „the unilateral and coalitional alternatives to agreement, including offers to link issues and threats of exclusion and exit” (Moravcsik 1995: 612). Die Alternativen, welche die Verhandlungspartner zu einem gemeinsamen Abkommen haben, bestimmen also die Strategien, welche sie zur Verfügung haben. Wer weniger stark auf ein Abkommen angewiesen ist, kann glaubwürdig drohen, den Partner von der Kooperation im entsprechenden Bereich auszuschliessen (threats of exclusion) oder aus den Verhandlungen auszusteigen (threats of exit). Auch um die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU zu analysieren, ist es hilfreich, die Situation der Verhandlungspartner zu analysieren.

Der Mangel an Alternativen zu einem Abkommen mit der EU reduziert in der Regel die Verhandlungsmacht der Schweiz. Gute Alternativen zu einem Abkommen mit der EU sind für die Schweiz selten, denn wenn die Schweiz Interesse an europäischer Integration hat, dann werden diese Interessen am besten durch ein sektorielles Abkommen mit der EU befriedigt. Manchmal wird zwar die unilaterale Übernahme von EU-Rechtsvorschriften in die schweizerische Gesetzgebung als Alternative diskutiert. Dies kann für die Schweiz in einigen Fällen von Vorteil sein, bietet aber bei Weitem nicht die gleichen Vorteile wie ein sektorielles Abkommen, da die EU solche unilateralen Massnahmen in der Regel nicht als Übernahme ihrer eigenen Regeln behandelt und den Schweizer Akteuren daher keine darauf basierenden Rechte einräumt (für eine Diskussion der unilateralen Einführung des Cassis-de-Dijon-Prinzips siehe EFTA-Studies-Analyse Der sektorielle Zugang der Schweiz zum Binnenmarkt der EU).

Verhandlungsstrategien

Verhandlungsstrategien wie die Verknüpfung von Themenbereichen oder Ausgrenzungs- und Ausstiegsdrohungen können von der Schweiz genutzt werden, um ihre Verhandlungsmacht zu vergrössern. Diese Strategien veranschaulichen, weshalb absolute Verhandlungsmacht weniger zählt als die themenspezifische Interessenkonstellation. Obwohl die Schweiz aufgrund ihres kleineren wirtschaftlichen und politischen Gewichts weniger absolute Verhandlungsmacht besitzt als die EU, hat sie manchmal Verhandlungsvorteile, wie beispielsweise in Wirtschaftsbereichen, in denen sie mit der EU oder wichtigen EU-Mitgliedstaaten im Wettbewerb steht.

Das bekannteste Beispiel für die Verknüpfung unterschiedlicher Themenbereiche sind die Bilateralen I, ein Paket von sieben Abkommen mit unterschiedlichem thematischen Fokus. Die EU profitierte davon, dass die Schweizer Regierung nach dem Nein zum EWR keine Alternativen zu Marktzugangsabkommen sah, während der Erfolg des Binnenmarktes nicht entscheidend von einem (sektoriellen) Einbezug der Schweiz abhing. Entsprechend war die Drohung der EU glaubwürdig, die Verhandlungen zu beenden (oder gar nicht erst aufzunehmen), falls die Marktzugangsabkommen nicht mit Abkommen im Interesse der EU verknüpft würden. Die Interessen der Schweiz betrafen den Land- und den Luftverkehr, das öffentliche Beschaffungswesen sowie den Abbau technischer Handelshemmnisse; die EU war vorrangig an der Liberalisierung des Personenverkehrs sowie des Handels mit Agrarprodukten interessiert.

Die Themenbereiche wurden verknüpft, indem über alle Themen parallel verhandelt wurde und die resultierenden sieben Abkommen rechtlich verbunden wurden. Dieses Vorgehen zwang die Parteien, in allen Bereichen eine Einigung zu erzielen. Wäre ein Abkommen nicht abgeschlossen oder nicht ratifiziert worden, wären auch die anderen Abkommen dahingefallen. Diese Regelung ist umgangssprachlich als „Guillotine-Klausel“ bekannt und gilt nach wie vor: Alle sieben Verträge der Bilateralen I werden automatisch aufgehoben, wenn ein Vertrag gekündigt wird.

Für die Verhandlungen der Bilateralen II kam die EU auf die Schweiz zu. Die EU wollte, dass sich die Schweiz an der neuen Zinsbesteuerungs- und Betrugsbekämpfungspolitik beteiligt. Die EU-Mitglieder Österreich, Luxemburg und Belgien hatten eine Teilnahme der Schweiz zur Bedingung für ihre eigene Zustimmung zu neuen EU-Rechtsvorschriften zur Besteuerung von Zinserträgen gemacht, da ihre Finanzsektoren sonst im Wettbewerb mit dem Schweizer Finanzsektor benachteiligt worden wären. Die EU hatte somit keine Alternative zu einem Abkommen mit der Schweiz, und die Schweiz konnte glaubhaft damit drohen, nicht in Verhandlungen einzusteigen, wenn ihre Interessen nicht erfüllt würden. Interessanterweise hat die Schweiz die EU-Vorschriften für die Besteuerung von Zinserträgen akzeptiert und als Zugeständnis Verhandlungen in anderen Bereichen gefordert. Diese Bereiche waren das Schengen- und das Dublin-Assoziierungsabkommen. Schon seit Anfang der 1990er-Jahre verfolgte der Bundesrat aus sicherheitspolitischen Gründen das Ziel, die Schweiz in den Schengen- und Dublin-Raum zu integrieren.

 

Im Unterschied zu den Bilateralen I betraf die Verknüpfung der neun Abkommen der Bilateralen II nur die Verhandlungen. Die Abkommen mussten als Paket unterzeichnet werden, was die Schweiz und die EU erneut zu parallelen Verhandlungen und einer Einigung in allen Themenbereichen zwang. Im Gegensatz zu den Bilateralen I traten die Verträge jedoch zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Kraft, und die Aufhebung eines Vertrags hat keine Auswirkungen auf die anderen Verträge. Ausgenommen sind die Schengen- und Dublin-Assoziierungsabkommen, die rechtlich miteinander verknüpft und gleichzeitig in Kraft getreten sind.

In den letzten Jahren ist es wieder vermehrt die EU, welche die Verknüpfung von Themenbereichen zu ihrem Vorteil zu nutzen weiss. So wurden beispielsweise das Stromabkommen und ein neues Abkommen im Bereich Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit, Produktsicherheit und Öffentliche Gesundheit mit dem Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens für (einige) sektorielle Marktzugangsabkommen verknüpft. Die Schweiz hat langfristig keine Alternative zu Abkommen, welche ihr sektoriellen Zugang zum EU-Binnenmarkt gewähren, da zwei Drittel ihrer Exporte in die EU fliessen. Früher oder später muss sie der EU in dieser Frage deshalb entgegenkommen. Kurz- und mittelfristig scheinen die Marktzugangsabkommen, welche die EU der Schweiz seit geraumer Zeit vorenthält, für die prosperierende Schweizer Wirtschaft aber nicht von so entscheidender Bedeutung zu sein, als dass die Schweiz ihre Verhandlungspositionen grundsätzlich ändern würde. Deshalb nutzt die EU weitere Sachbereiche, um die Schweiz unter Druck zu setzen. Beispielsweise anerkannte die EU die Schweizer Börsenregulierung seit Dezember 2017 immer nur für eine bestimmte Frist als gleichwertig, und kündigte jeweils an, die Anerkennung nur zu verlängern, wenn das institutionelle Rahmenabkommen abgeschlossen wird.

 
Die Rolle der Schweizer Innenpolitik

Die Innenpolitik spielt bei internationalen Verhandlungen eine Rolle, da die Regierung nicht nur auf der internationalen Bühne einen für ihr Land günstigsten Kompromiss aushandeln muss, sondern auch die Unterstützung der wichtigen politischen Kräfte zuhause sicherstellen muss. Politolog*innen bezeichnen diese Situation der Regierung als „two level game“, als Spiel auf zwei Ebenen.

Im Falle der Schweiz kann die Innenpolitik die internationale Verhandlungsmacht des Bundesrates stärken, falls für die Ratifizierung eines Abkommens eine Volksabstimmung nötig ist. Dies spielte sowohl bei den Bilateralen I als auch bei den Bilateralen II eine Rolle und konnte vom Bundesrat als glaubwürdige Ausstiegsdrohung verkauft werden. Wird ein internationales Abkommen paraphiert, muss es in der Regel von beiden Vertragsparteien ratifiziert werden. Wenn eine Regierung die Zustimmung des Parlaments oder in einer Volksabstimmung benötigt, kann sie argumentieren, dass eine bessere Berücksichtigung ihrer Interessen die Chancen erhöht, zuhause die Ratifizierungs-Abstimmung zu gewinnen. Normalerweise ist niemand an der Ablehnung eines mühsam verhandelten und schon paraphierten Abkommens interessiert.

So machte die EU gegenüber der Schweiz in den Verhandlungen der Bilateralen I bspw. Zugeständnisse bei den Übergangsfristen für die Einführung der Personenfreizügigkeit. Dies kann nach der Ablehnung des EWR in einer Volksabstimmung im Jahr 1992 nicht zuletzt als Strategie gewertet werden, die Chancen auf eine Annahme der Bilateralen I an der Urne zu erhöhen. Eine ähnliche Logik brachte die EU vielleicht auch dazu, im Schengen Assoziierungsabkommen den üblichen innerstaatlichen Entscheidungsprozess in der Schweiz anzuerkennen, obwohl dieser Weg der Übernahme von neuen EU-Rechtsvorschriften die im Abkommen festgeschriebene dynamische Übernahme verlangsamt.

Das Erfordernis einer Volksabstimmung beeinflusst die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU ausserdem noch in einem anderen Punkt. Eine Volksabstimmung zwingt die Regierung, eine breite Koalition von Parteien und Verbänden von einem ausgehandelten Abkommen zu überzeugen, da eine Volksabstimmung nur mit einer breiten Koalition zu gewinnen ist. Manchmal braucht es dafür politische Zugeständnisse an wichtige Akteure, um sie an Bord zu holen. Ein Beispiel dafür sind die sogenannten ‚flankierenden Massnahmen’, welche mit den Bilateralen I eingeführt wurden. Die flankierenden Massnahmen bestehen aus verschiedenen Arbeitsmarktregelungen, welche die inländischen Arbeitskräfte angesichts der Arbeitnehmerfreizügigkeit mit der EU vor Lohn- und Sozialdumping schützen. Dank der flankierenden Massnahmen unterstützten die Gewerkschaften und die Linke die Einführung der Personenfreizügigkeit und damit der Bilateralen I. Der Entwurf für das institutionelle Rahmenabkommen anerkennt einige dieser Anti-Dumping-Massnahmen explizit, allerdings in einer abgeschwächten Form. Das ist einer der wichtigsten Kritikpunkte am Abkommen in der Schweiz und einer der Gründe, warum es zurzeit nicht sicher ist, ob das Abkommen in einer Volksabstimmung ratifiziert würde.

Schlussfolgerung

Diese Analyse zeigt, dass langandauernde Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU üblich sind. Zudem wird aus der Analyse klar, dass die strittigen Punkte, welche die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen so schwierig machten, bereits in der Vergangenheit Verhandlungen erschwerten: Die EU bevorzugt Abkommen, die auf ihren eigenen Rechtsvorschriften beruhen, während die Schweiz manchmal andere politische Traditionen besitzt, welche sie nicht ohne Weiteres aufgeben kann oder will. Zudem bevorzugt die EU stärkere Aufsichtsmechanismen, während die Schweiz an ihrer Unabhängigkeit festhält.

Die Verhandlungsdynamik wird – wie es in den internationalen Beziehungen im Allgemeinen und der europäischen Integration im Besonderen an der Tagesordnung ist – von der Verhandlungsmacht und den Verhandlungsstrategien der Parteien geprägt. Es gibt Verhandlungen, in denen die Schweiz dank ihrer branchenspezifischen Wettbewerbsfähigkeit oder der erfolgreichen Verknüpfung von Themenbereichen, die von Interesse für die Schweiz sind, mit solchen, die für die EU von Interesse sind, über beträchtliche Verhandlungsmacht verfügt. Auch die EU war mit dieser Verhandlungsstrategie schon erfolgreich.

 

Allerdings zeigt die Tatsache, dass die EU mit ihrer Forderung nach einem institutionellen Rahmenabkommen bislang keinen Erfolg hatte, dass sich die Schweiz die Alternative „kein Rahmenabkommen“ zumindest kurzfristig leisten kann. Die EU machte nämlich die Ratifizierung von neuen und teilweise bereits ausgehandelten Marktzugangsabkommen vom Abschluss eines Rahmenabkommen abhängig. Die Ironie der aktuellen Situation ist, dass ein institutionelles Rahmenabkommen einen Streitschlichtungsmechanismus für Meinungsverschiedenheiten zwischen der Schweiz und der EU bieten würde, was den Rückgriff auf Vergeltungsmassnahmen wie die Verknüpfung von sachlich unzusammenhängenden Themen seltener machen würde.

Neben den in dieser Analyse beschriebenen Abkommen haben die Schweiz und die EU viele weitere abgeschlossen. Die empirische Forschung zu den Abkommen legt nahe, dass es der EU generell gelingt, den Abkommen mit der Schweiz ihre eigenen Vorschriften zugrunde zu legen. Abkommen, die sich auf EU-Recht stützen, werden signifikant häufiger geändert als andere Abkommen (siehe EFTA-Studies-Analyse Funktionsweise der Abkommen zwischen der Schweiz und der EU: die versteckte Dynamik und ihre Gründe. Zudem entsprechen die Ausnahmen, welche die EU der Schweiz gewährt, manchmal Ausnahmeregeln für Mitgliedstaaten. So wurden beispielsweise auch den alten (westeuropäischen) EU-Mitgliedstaaten Übergangsfristen bis zur Einführung der Personenfreizügigkeit mit neuen zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten gewährt. Die Schweizer Verhandlungsführer*innen und die Schweizer Regierung brauchen daher auch in Zukunft geschickte Strategien und etwas Glück, um trotz ihrer relativ schwachen Verhandlungsposition vorteilhafte Resultate zu erzielen.

* Teile dieser Analyse, insbesondere die Diskussion der bisherigen Forschung im Lichte der europäischen Integrationstheorien, stützen sich auf Kapitel 4 von Sabine Jennis Buch „Switzerland’s differentiated European integration. The last Gallic village?“ (siehe Bibliographie).

1) Inzwischen wurde die entsprechende EU-Richtlinie aufgehoben und durch eine Richtlinie zum automatischen Informationsaustausch ersetzt.

Zitierhinweis

Jenni, Sabine (2019): Die Logik der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Analyse. efta-studies.org.

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