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24. Februar 2019

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Institutionelle Herausforderungen im EWR

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Obwohl der EWR mit der sogenannten Zwei-Pfeiler-Struktur über eine stark ausdifferenzierte institutionelle Struktur verfügt, ergeben sich immer wieder spezifische institutionelle Herausforderungen. Dieser Beitrag führt einige Beispiele für solche institutionelle Herausforderungen auf und beschreibt, wie diese die Kompetenzverteilung innerhalb der Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR verändert haben.

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Dr. Christian Frommelt

Politikwissenschaftler und Direktor

Liechtenstein-Institut

christian.frommelt@liechtenstein-institut.li

Zusammenfassung

Die Zwei-Pfeiler-Struktur mit einem EFTA- und einem EU-Pfeiler sowie einigen gemeinsamen Organen ist auch heute noch grundlegend für das EWR-Abkommen. Seit dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens wurde die Zwei-Pfeiler-Struktur jedoch durch spezifische Entscheidungsregeln ergänzt. Dies war nötig, um auf neue institutionelle Entwicklungen in der EU zu reagieren. Insbesondere die Übernahme von EU-Agenturen in das EWR-Abkommen stellt die Vertragsparteien regelmässig vor eine grosse Herausforderung. Wie dieser Beitrag aufzeigt, mussten für die einzelnen Agenturen jeweils spezifische Lösungen gefunden werden, deren Details im Übernahmebeschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses geregelt wurden. Die Vielzahl der so entstandenen Regeln und die teils fehlende Konsistenz mit den Prinzipien der Zwei-Pfeiler-Struktur hat die Komplexität des institutionellen Rahmens des EWR-Abkommens weiter erhöht. Dieser Beitrag thematisiert anhand konkreter Beispiele aus dem EWR die institutionellen Herausforderungen externer Differenzierung. Im Kern geht es dabei um die Frage, in welchem Umfang Nicht-EU-Staaten bereit sind, Entscheidungskompetenzen zu teilen, um so ihre wirtschafts- oder sicherheitspolitischen Integrationsziele zu erreichen.

Die Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR

Das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) schafft einen gemeinsamen Wirtschaftsraum bestehend aus den Mitgliedern der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) Island, Liechtenstein und Norwegen und den Mitgliedern der Europäischen Union (EU). Das vierte EFTA-Mitglied, die Schweiz, ist nicht Teil des EWR-Abkommens. Das EWR-Abkommen deckt dabei die vier Grundfreiheiten der EU sowie horizontale und flankierende Politiken ab und sorgt für gleiche Wettbewerbsbedingungen in der EU und im EWR. Zur Verwaltung des EWR-Abkommens und der damit einhergehenden sehr umfassenden Integration der EWR/EFTA-Staaten wurden verschiedene EFTA-Institutionen sowie gemeinsame EWR-Organe geschaffen, die zusammen mit den Institutionen der EU eine sogenannte Zwei-Pfeiler-Struktur bilden.

 

Die Zwei-Pfeiler-Struktur ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis des EWR und die Bewertung seiner Funktionsweise. Der institutionelle Rahmen des EWR soll die Homogenität des EU- und des EWR-Rechts sichern. Die Institutionen des EU- und des EFTA-Pfeilers sind jedoch nicht identisch, und der EWR sieht nicht das gleiche Mass an politischer Integration vor wie die EU. Insbesondere haben die EWR/EFTA-Staaten den EFTA-Institutionen keine substanzielle Gesetzgebungsbefugnis übertragen. Island und Norwegen ist es zudem verfassungsrechtlich nicht möglich, substanzielle legislative Kompetenzen an EU-Institutionen zu übertragen.

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Herausforderungen bei der Übernahme von neuem EWR-Recht

Verschiedene Probleme in der alltäglichen Administration des EWR-Abkommens können als Resultat der Zwei-Pfeiler-Struktur und damit als institutionelle Herausforderungen verstanden werden. Solche «Zwei-Pfeiler-Probleme» treten beispielsweise auf, wenn ein neuer EU-Rechtsakt, der einem EU-Organ operative, exekutive und quasi-legislative Aufgaben überträgt, in das EWR-Abkommen übernommen werden muss. EU-Rechtsakte mit solchen institutionellen Anforderungen müssen dann für ihre Anwendung in den EWR/EFTA-Staaten an die spezifischen Merkmale der Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR angepasst werden. Dazu werden die Aufgaben und Verantwortlichkeiten eines EU-Organs einem EFTA-Organ zugewiesen. Wenn ein EU-Rechtsakt also der Europäischen Kommission bestimmte Zuständigkeiten überträgt, müssen analog die Zuständigkeiten für deren Anwendung in den EWR/EFTA-Staaten der EFTA-Überwachungsbehörde (ESA), dem Standing Committee oder den nationalen Behörden der EWR/EFTA-Staaten übertragen werden.

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Der Grossteil der in das EWR-Abkommen übernommenen EU-Rechtsakte fügte sich problemlos in die bestehende institutionelle Struktur des EWR ein. Für alle anderen mussten jedoch spezifische Anpassungen vereinbart werden. Solche Zwei-Pfeiler-Probleme betreffen unter anderem: i) die Beteiligung der EWR/EFTA-Staaten an den EU-Gremien und ihren Ausschüssen; ii) die Befugnis der EU und ihrer Gremien, verbindliche Beschlüsse zu fassen, die an die EWR/EFTA-Staaten gerichtet sind; iii) die Art der Unterstützung durch die Europäische Kommission für die ESA, wenn die ESA spezifische Entscheidungen für die EWR/EFTA-Staaten trifft; iv) die Zusammenarbeit zwischen dem EFTA-Pfeiler und den für die Überwachung der Anwendung des EWR-Rechts zuständigen EU-Organen; v) die Frage, ob der EFTA-Gerichtshof oder der EuGH zuständig ist; vi) oder die Möglichkeit des Gemeinsamen EWR-Ausschusses zur politischen Streitbeilegung.

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Diese institutionellen Fragen wurden meist von Fall zu Fall verhandelt, womit jeweils eine auf einen spezifischen Rechtsakt beschränkte Lösung vereinbart wurde. Durch diese Ad-hoc-Verhandlungen wurde die Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR um eine Reihe von fallspezifischen Regeln für die Entscheidungsfindung und Überwachung im EWR ergänzt, währenddessen das Grundgerüst der Zwei-Pfeiler-Struktur unangetastet blieb. Nichtsdestotrotz waren die Verhandlungen über solche institutionellen Fragen oft langwierig und haben viele Ressourcen gebunden. Der Case-by-case-Ansatz war oft unvermeidlich, da jeder EU-Rechtsakt einzigartig ist. Dies gilt sowohl mit Blick auf die institutionellen Anforderungen, die mit einem EU-Rechtsakt verbunden sind, als auch auf dessen wirtschaftliche und politische Relevanz.

 

Trotz dieses Case-by-case-Ansatzes ist es zu einem gewissen Grad möglich, die verschiedenen institutionellen Herausforderungen im EWR zu systematisieren. Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich dabei auf Herausforderungen im Zusammenhang mit den Entscheidungskompetenzen von EU-Agenturen sowie die Themen Marktzulassungen und das Verhängen von Geldbussen und anderen Sanktionen. Davor wird jedoch kurz Protokoll 1 über horizontale Anpassungen erläutert.

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Protokoll 1 über horizontale Anpassungen

Im Allgemeinen ist der Anwendungsbereich eines neuen EU-Rechtsaktes, welcher in das EWR-Abkommen übernommen werden soll, in der EU und im EWR identisch. Um die Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR aufrechtzuerhalten, legt das Protokoll 1 zum EWR-Abkommen jedoch fest, wie die in das EWR-Abkommen aufgenommenen EU-Rechtsakte im Grundsatz anzuwenden sind. Enthält ein EU-Rechtsakt beispielsweise Verweise auf Staatsangehörige von EU-Mitgliedstaaten, so gelten diese Verweise auch für Staatsangehörige von EFTA-Staaten. Gleiches gilt für Verweise auf Gebiete oder Sprachen in einem EU-Rechtsakt. Darüber hinaus werden die Aufgaben der Europäischen Kommission «im Rahmen von Verfahren zur Überprüfung oder Genehmigung, Information, Notifizierung oder Konsultation und ähnlichen Angelegenheiten für die EFTA-Staaten nach den unter ihnen festgelegten Verfahren ausgeführt». In der Praxis werden diese Aufgaben der Europäischen Kommission vom Standing Committee im EFTA-Pfeiler wahrgenommen.

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Das Protokoll 1 gilt für alle Rechtsakte, die in das EWR-Abkommen aufgenommen werden, sofern keine EWR-spezifischen Anpassungen zur Anwendung kommen. Dank des Protokolls 1 müssen die Vertragsparteien bei der Übernahme von EU-Recht in das EWR-Abkommen keine wiederholten EWR-spezifischen Anpassungen vornehmen. Wie oben bereits erwähnt, können jedoch in einigen Fällen solche EWR-spezifischen Anpassungen erforderlich sein, um die Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR zu erhalten. Deren Relevanz ist jeweils auf den konkreten Rechtsakt beschränkt, weshalb sich aus solchen Anpassungen auch kein Präjudiz für das EWR-Abkommen und seine Institutionen ableiten lässt. Um dies zu verdeutlichen, haben die EWR/EFTA-Staaten parallel zur Verabschiedung von EWR-spezifischen Anpassungen oft eine entsprechende gemeinsame Erklärung verabschiedet.

 

Rechtsverbindliche Entscheidungen

In den letzten 15 Jahren hat sich die Anzahl EU-Agenturen und anderer dezentraler Einrichtungen stark erhöht. Diese Institutionen sind von den EU-Institutionen rechtlich getrennte, eigenständige Rechtspersonen, welche bestimmte Aufgaben im Rahmen des EU-Rechts wahrnehmen. Viele dieser Aufgaben sind auch EWR-relevant, weshalb diese Einrichtungen im Regelfall in das EWR-Abkommen übernommen werden. Allerdings finden sich im EFTA-Pfeiler keine Institutionen, welche den EU-Agenturen entsprechen. Folglich wird der rechtliche Rahmen der EU-Agenturen mit Blick auf die EWR/EFTA-Staaten im entsprechenden Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses geregelt.

 

Eine Herausforderung für die Zwei-Pfeiler-Struktur ist es, wenn diese EU-Agenturen oder dezentrale Einrichtungen über die Kompetenz verfügen, verbindliche Entscheidungen zu treffen. Nach der Logik der Zwei-Pfeiler-Struktur muss diese Kompetenz mit Blick auf die EWR/EFTA-Staaten innerhalb des EFTA-Pfeilers angesiedelt werden. Dies gilt auch für den Fall, dass in einem EWR/EFTA-Staat gegen solche Entscheidungen Rechtsmittel ergriffen werden.

 

Ein Beispiel für institutionelle Herausforderungen im Zusammenhang mit dezentralen EU-Einrichtungen ist die Beteiligung der EWR/EFTA-Staaten am europäischen Finanzaufsichtssystem, das sich aus dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken und den drei Europäischen Aufsichtsbehörden zusammensetzt: der Europäischen Bankaufsichtsbehörde, der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung sowie der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde. Diese Europäischen Aufsichtsbehörden können verbindliche, individuelle Entscheidungen erlassen, die an die zuständigen nationalen Behörden und die Finanzmarktinstitute oder -teilnehmer gerichtet sind. In die Entscheidungskompetenz der Europäischen Aufsichtsbehörden fallen i) Entscheidungen, bestimmte Finanzmarktaktivitäten zeitlich befristetet einzuschränken oder gar zu verbieten, wenn diese die Funktionsweise des EU-Finanzmarktes gefährden, ii) Entscheidungen, welche die Finanzmarktakteure auffordern, die betreffenden EU-Anforderungen umzusetzen und zu erfüllen, iii) Massnahmen in Notfällen oder iv) die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen den zuständigen Behörden.

 

Im Oktober 2014 einigten sich die Finanzminister der drei EWR/EFTA-Staaten und der EU-Staaten auf die Grundzüge der Übernahme der Europäischen Aufsichtsbehörden in das EWR-Abkommen. Im September 2016 haben die Vertragsparteien nach mehr als fünf Jahren intensiver Verhandlungen die Europäischen Aufsichtsbehörden schliesslich in das EWR-Abkommen aufgenommen. Dies erforderte jedoch mehrere EWR-spezifische Anpassungen (mehr als 50 für jede Behörde; siehe JCDs 199/2016; 200/2016; 201/2016 und eine Änderung des Surveillance and Court Agreement (SCA). Diese Anpassungen und Änderungen sehen vor, dass alle Entscheidungen im Rahmen der Europäischen Aufsichtsbehörden von der ESA auf der Grundlage von Entwürfen getroffen werden, die von der jeweiligen Europäischen Aufsichtsbehörde von sich aus oder auf Ersuchen der ESA erstellt werden. Mit anderen Worten: Obwohl die ESA gemäss Anpassungstext in völliger Unabhängigkeit handeln wird, wird sie faktisch nur die Entscheidungsentwürfe abstempeln, welche ihr von der zuständigen EU-Behörde vorgelegt werden (siehe hierzu Fredriksen & Franklin 2015: 679). Dieses «Andocken» des EFTA-Pfeilers an die EU war nötig, um der Gefahr einer unterschiedlichen Anwendung und Auslegung der EWR-Regeln im EFTA- und EU-Pfeiler entgegenzuwirken. Im Gegenzug werden den EWR/EFTA-Staaten und Vertretern der ESA weitgehende Beteiligungsrechte in den Gremien der drei EU-Finanzaufsichtsbehörden eingeräumt – allerdings stets ohne ein konkretes Stimmrecht.

 

Eine ähnliche Lösung wurde bei der Übernahme der Verordnung (EU) Nr. 713/2009 zur Gründung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörde (ACER) vereinbart. Auch hier erlässt die ESA eine Entscheidung, die sich an eine nationale Behörde eines EWR/EFTA-Staates richtet, auf Basis eines von ACER vorbereiteten Entwurfs der entsprechenden Entscheidung (JCD 93/2017). Hervorzuheben ist, dass der Anpassungstext explizit festhält, dass Verfahren gegen eine solche Entscheidung der ESA vor den EFTA-Gerichtshof gebracht werden können.

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Marktzulassungen

Sensible Produkte können nicht ohne vorherige Kontrolle in Verkehr gebracht werden und brauchen deshalb eine entsprechende Marktzulassung. Zu diesem Zweck legt die EU Zulassungsanforderungen und -verfahren für verschiedene Produktarten fest.

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Seit dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens sind bei den Regelungen, die einer konkreten Marktzulassung eines Produkts zugrunde liegen, regelmässig institutionelle Fragen aufgeworfen worden. Dies gilt insbesondere bei zentralisierten Zulassungssystemen, wonach die Zulassung durch die Europäische Kommission oder eine EU-Agentur und nicht durch die EU-Mitgliedstaaten vergeben wird. Wenn solche Marktzulassungen nicht unter Protokoll 1 des EWR-Abkommens fallen und nicht als einfache Verwaltungsvorschriften behandelt werden können, die nicht in das EWR-Abkommen übernommen werden müssen, erfordert die Aufnahme solcher EU-Rechtsakte EWR-spezifische Anpassungen, um die Zuständigkeit für Zulassungsentscheidungen im EFTA-Pfeiler festzulegen. Solche Genehmigungen können von den EWR/EFTA-Staaten, der ESA oder der Europäischen Kommission erteilt werden. So kann beispielsweise in der EWR-spezifischen Anpassung festgelegt werden, dass die EWR/EFTA-Staaten «gleichzeitig und innerhalb von 30 Tagen nach Erlass der Entscheidung» der EU eine entsprechende Entscheidung erlassen müssen. Dies gilt unter anderem für die Verordnung (EG) Nr. 726/2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur, welche durch JCD 61/2009 in das EWR-Abkommen übernommen wurde. Auf diese Weise konnten die EWR/EFTA-Staaten eine formelle Übertragung ihrer Entscheidungsbefugnisse an die EU vermeiden. Da die Entscheidung der nationalen Behörden der EWR/EFTA-Staaten auf derjenigen des zuständigen EU-Organs basieren muss und innerhalb einer klar bestimmten Frist erfolgen muss, ist auch die Homogenität weiterhin gewährleistet. Im Anpassungstext heisst es darüber hinaus, dass die ESA die Umsetzung der Entscheidungen kontrolliert und im Falle von «Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung dieser Bestimmungen […] Teil VII des Abkommens sinngemäss» gilt, was bedeutet, dass die betroffenen Teile des EWR-Abkommens ausgesetzt werden könnten, wenn es keine Vereinbarung gibt.

 

Ähnliche Regelungen wurden für die Zulassung von Arzneimitteln und für Chemikalien (Verordnung (EG) Nr. 1907/2006; JCD 25/2008) sowie für neuartige Lebensmittel (Verordnung (EG) Nr. 285/97; JCD 147/2015) getroffen. Im Falle der Verordnung (EG) Nr. 1592/2002 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europäischen Agentur für Flugsicherheit (EASA) hingegen gibt die in JCD 179/2004 verankerte EWR-spezifische Anpassung der EASA die Kompetenz, Entscheidungen zu treffen, die unmittelbar im gesamten EWR gelten. Dieses Modell gewährleistet die Homogenität des EWR-Rechts, umgeht aber die Entscheidungsbefugnis der EWR/EFTA-Staaten und der EFTA-Institutionen. Eine solche Abweichung von der Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR war für die EWR/EFTA-Staaten nur akzeptabel, da die Entscheidungen der EASA sehr technischer Natur sind und eine hohe Expertise erfordern. Das Modell gilt auch für die Verordnung (EG) Nr. 216/2008 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt, welche die vorhin genannte Verordnung (EG) Nr. 1592/2002 geändert hat (siehe JCD 163/2011).

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Bussgelder und Strafen

Fragen im Zusammenhang mit der Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR tauchen auch dann auf, wenn ein EU-Rechtsakt der Europäischen Kommission oder einer EU-Agentur die Befugnis überträgt, direkt Geldbussen für Unternehmen auszusprechen. Die Zwei-Pfeiler-Struktur bedingt, dass die Befugnis zur Verhängung von Geldbussen gegen Unternehmen mit Sitz in den EWR/EFTA-Staaten auf den EFTA-Pfeiler übertragen werden muss. So besagt beispielsweise die im JCD 146/2005 verankerte EWR-spezifische Anpassung zur Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel, dass die Aufgabe der Europäischen Kommission, Geldbussen gegen Unternehmen zu verhängen, für die EWR/EFTA-Staaten von deren Regulierungsbehörden wahrgenommen wird. Aus Sicht der EWR/EFTA-Staaten mag diese Lösung mit der Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR übereinstimmen, doch im Hinblick auf die Homogenität des EWR-Rechts ist es fraglich, ob die Regulierungsbehörden in den EWR/EFTA-Staaten über den gleichen Grad an Unabhängigkeit und das gleiche Fachwissen verfügen wie die Europäische Kommission. Bemerkenswert war auch, dass der Anpassungstext keinen Austausch zwischen der Europäischen Kommission und den nationalen Behörden der EWR/EFTA-Staaten über die Art der Geldbussen voraussetzte.

 

Seitdem die Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 durch die Verordnung (EG) Nr. 714/2009 aufgehoben wurde, heisst es in der EWR-spezifischen Anpassung (JCD 93/2017), dass die Aufgabe der Europäischen Kommission zur Verhängung von Geldbussen für die betroffenen Unternehmen in den EFTA-Staaten von der ESA wahrgenommen wird und dass Rechtsmittel gegen Entscheidungen der ESA beim EFTA-Gerichtshof ergriffen werden müssen.

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Eine ähnliche Regelung wurde für die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) vereinbart (Verordnung (EG) Nr. 216/2008, JCD 163/2011). Auch im Falle der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 über Kinderarzneimittel sieht der Anpassungstext vor, dass Geldstrafen gegen Inhaber von Zulassungen, die in einem EWR/EFTA-Staat niedergelassen sind, von der ESA zu verhängen sind (siehe JCD 192/2017). Im Anpassungstext heisst es jedoch auch, dass die Europäische Kommission vor einer Entscheidung der ESA über Geldstrafen ihre eigene Bewertung vornimmt und der ESA einen Vorschlag für die von der ESA zu ergreifenden Massnahmen vorlegt. Diese Verpflichtung zu einer engen Zusammenarbeit zwischen der ESA und der Europäischen Kommission ist notwendig, da die Europäische Kommission für die Verabschiedung von Marktzulassungen zuständig ist und daher auch für die Verhängung von Geldbussen bei Verstössen gegen ihre Entscheidungen zuständig sein sollte.

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Ein weiteres Beispiel findet sich in der oben genannten Verordnung (EG) Nr. 726/2004 über die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln, welche es der Europäischen Kommission ermöglicht, gegen die Inhaber der jeweiligen Marktzulassungen Geldstrafen zu verhängen. Ähnlich wie bei der vorhin erwähnten ersten Fassung der Verordnung über den grenzüberschreitenden Stromhandel (Verordnung (EG) Nr. 1228/2003, JCD 146/2005) haben sich die EWR/EFTA-Staaten und die EU auch bei der Zulassung von Human- und Tierarzneimitteln darauf geeinigt, dass diese Aufgabe in Bezug auf die EWR/EFTA-Staaten von ihren nationalen Regulierungsbehörden wahrgenommen wird (siehe JCD 61/2009). Im Anpassungstext heisst es jedoch ausdrücklich, dass die Entscheidungen dieser Regulierungsbehörden auf einem Vorschlag der Europäischen Kommission beruhen.

 

Schliesslich kann die Europäische Kommission im Bereich des Wettbewerbs in fast allen grenzüberschreitenden Fällen zwischen der EU und den EWR-EFTA-Staaten tätig werden. Infolgedessen kann die Europäische Kommission direkt Geldbussen gegen Unternehmen mit Sitz in einem EWR/EFTA-Staat verhängen.

 

Schlussfolgerungen

Die Verpflichtung zur dynamischen Übernahme von neuem EU-Recht hat das EWR-Abkommen und dessen Institutionen stark geprägt. Seit dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens wurden über 5'000 neue EU-Rechtsakte übernommen. Die Mehrheit dieser Rechtsakte fügte sich problemlos in den bestehenden institutionellen Rahmen des EWR ein und konnte deshalb ohne Anpassungen übernommen werden. Einige Rechtsakte enthielten jedoch spezifische institutionelle Anforderungen, weshalb vor der Übernahme eines solchen EU-Rechtsaktes in das EWR-Abkommen zwischen den Vertragsparteien erst geklärt werden musste, wo genau in der Zwei-Pfeiler-Struktur des EWR die im entsprechenden EU-Rechtsakt verankerten institutionellen Kompetenzen angesiedelt werden.

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Seit dem Inkrafttreten des EWR wurde die Zwei-Pfeiler-Struktur so um eine Vielzahl von Ad-hoc-Regeln für die Entscheidungsfindung und Überwachung des in das EWR-Abkommen übernommenen EU-Rechts erweitert. Spezifische Regeln waren nötig, da die Institutionen des EFTA-Pfeilers die Institutionen der EU zwar in ihren Grundzügen widerspiegeln, ihnen aber nicht vollends entsprechen. Weist ein EU-Rechtsakt beispielsweise einer EU-Agentur die Aufgabe zu, verbindliche Entscheidungen zu treffen, so kann diese Aufgabe für die EWR/EFTA-Staaten grundsätzlich bei deren nationalen Behörden, dem Standing Committee, der ESA oder sogar bei einer entsprechenden EU-Agentur angesiedelt werden. Entscheidend ist dabei vor allem die Salienz des Politikfelds. So sind die EWR/EFTA-Staaten bei stark technischen Regulierungsbereichen wie der Luftfahrt eher bereit, der EU eine zentrale Rolle einzuräumen als in politisch und wirtschaftlich sensiblen Bereichen wie den Finanzdienstleistungen.

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Dass die Institutionen des EFTA- und des EU-Pfeilers nicht deckungsgleich sind, hängt damit zusammen, dass seit dem Abschluss des EWR-Abkommens aufseiten der EU mit den EU-Agenturen sowie anderen dezentralen Einrichtungen neue Institutionen geschaffen wurden. Zudem haben die bestehenden Institutionen aufgrund weiterer Vertiefungsschritte neue Kompetenzen erhalten. Diese Vertiefungsschritte sind im statischen EWR-Hauptabkommen nicht reflektiert. Solange aber die Rechtsnatur des EWR-Abkommens diejenige eines einfachen völkerrechtlichen Abkommens ist und damit von der Rechtsnatur der EU abweicht, können die Institutionen des EFTA- und des EU-Pfeilers nicht über dieselben Aufgaben und Kompetenzen verfügen. Bei der Übernahme neuer EU-Rechtsakte in das EWR-Abkommen sind deshalb immer wieder entsprechende Anpassungen vorzunehmen.

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Obwohl sich die in diesem Beitrag skizzierten institutionellen Herausforderungen des EWR ähneln und oft mit der Errichtung von EWR-relevanten EU-Agenturen verbunden sind, hat sich noch kein einheitlicher Ansatz zur Lösung solcher institutioneller Fragen herauskristallisiert. Stattdessen wird jeder Fall separat betrachtet, was zu unterschiedlichen Regelungen führt und die Komplexität des institutionellen Gefüges im EWR weiter erhöht. Allerdings lassen sich aus den vergangenen Jahren durchaus bestimmte Muster erkennen. Ein erstes Muster ist die Stärkung der ESA gegenüber den EWR/EFTA-Staaten, indem beispielsweise Entscheidungskompetenzen nicht beim Standing Committee oder den nationalen Behörden der EWR/EFTA-Staaten, sondern direkt bei der ESA angesiedelt werden.

 

Eine zweite Beobachtung ist eine stärkere Anbindung der ESA an EU-Institutionen. Der Dialog zwischen der Europäischen Kommission und der ESA war schon immer intensiv. Die Verflechtung zwischen dem EFTA- und dem EU-Pfeiler des EWR hat sich durch die Übernahme verschiedener EU-Agenturen und der damit verbundenen Einbindung der EWR/EFTA-Staaten und EFTA-Institutionen in die Gremien dieser EU-Agenturen weiter erhöht.

 

Diese Entwicklung macht eine oft vergessene Eigenschaft der Zwei-Pfeiler-Struktur deutlich. Zwar ist der Grundgedanke der Zwei-Pfeiler-Struktur die Sicherstellung einer weitgehend autonomen Entscheidungsfindung innerhalb der zwei Pfeiler, der institutionelle Rahmen des EWR soll aber auch die EU und die EWR/EFTA-Staaten zusammenführen. Dies gilt nicht nur für die gemeinsamen Organe. Vielmehr stehen alle Organe der beiden Pfeiler laufend in einem formellen und informellen Austausch.

 

Allerdings gilt es auch festzuhalten, dass bei einzelnen Rechtsakten durchaus die Grenzen dessen, was noch als klassisches Zwei-Pfeiler-Modell bezeichnet werden kann, erreicht wurden. Dies gilt insbesondere für die weitgehende Zuständigkeit der entsprechenden EU-Agentur in den sehr technischen Bereichen Luftfahrt und künftig wohl auch Schienenverkehr (siehe die noch ausstehende Übernahme der Verordnung (EU) 2016/796 über die Eisenbahnagentur). Auch im Bereich des Datenschutzes wurde jüngst mit der Übernahme der Verordnung (EU) 2016/679 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten eine sehr enge Anbindung an den Europäischen Datenausschuss und damit den EU-Pfeiler beschlossen (JCD 154/2018). Dies hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Charakterisierung der politischen Zusammenarbeit im EWR als intergouvernemental oder supranational. Solange die Zwei-Pfeiler-Struktur Bestand hat, bleibt diese Zusammenarbeit grundsätzlich intergouvernemental. Durch die verschiedenen hier skizzierten zusätzlichen Entscheidungsregeln haben sich aber auch supranationale bzw. quasi-supranationale Governance-Modi im EWR etabliert (siehe hierzu separater Analyse-Beitrag).

 

Die Zukunft des institutionellen Rahmens des EWR wird dabei wesentlich durch die Entwicklung des EU-Rechts und dessen Kompatibilität mit den Prinzipien der Zwei-Pfeiler-Struktur bestimmt. Wollen die EWR/EFTA-Staaten die Funktionsweise des EWR dabei sichern, benötigen sie auch künftig den politischen Spielraum, die Zwei-Pfeiler-Struktur flexibel auszulegen.

Zitierhinweis

Frommelt, Christian (2019): Institutionelle Herausforderungen im EWR. Analyse. efta-studies.org.

Quellen und weiterführende Literatur

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